Hintergrund

Eine entfristete Position im deutschen Wissenschaftssystem zu erlangen, ist für Wissenschaftler:innen ein schwieriger Weg. Dies zeigt wieder die jüngst unter dem Hashtag #IchBinHanna entbrannten Debatte um gute und faire Karrierebedingungen (Bahr et al., 2022). Entgegen der Prämisse der „Bestenauslese“, d. h. die beste Kandidatin oder den besten Kandidaten für eine bestimmte Position auszuwählen, zeigen Forschungen, dass auch individuelle Charakteristika (z. B. Geschlecht, Migrationshintergrund oder soziale Klassenzugehörigkeit) eine Rolle dabei spielen, wer eine entfristete Position in der Wissenschaft bekommt. Dies betrifft z. B. eine Professur an einer Universität bzw. an einer Hochschule für angewandte Forschung (HAW) oder eine entfristete Postdoktorandenstelle (Lutter & Schröder, 2014). Dahinter liegen Ungleichbehandlungen bzw. Diskriminierungen aufgrund herrschender Vorurteile und stereotype Wahrnehmungen über bestimmte soziale Gruppen, die allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit z. B. als weniger kompetent oder weniger geeignet für eine Stelle angesehen werden. 

Überraschenderweise ist das Alter einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers ein selten diskutiertes Thema (Ordemann & Naegele, 2024), wenn es darum geht zu erklären, warum die hinter der „Bestenauslese“ stehende wissenschaftliche Exzellenz und individuelle Leistung im sogenannten „race for tenure“ nicht ausreichen (Hüther & Krücken 2018). Es ist voranzustellen, dass jede:r Wissenschaftler:in neben dem „chronologischen“ auch ein „akademisches Alter“ besitzt, also die Zeit, die eine Person im Wissenschaftsbetrieb verbracht hat. In diesem Prozess können unterschiedliche Zählweisen zugrunde gelegt werden: die Zeit in der Wissenschaft kann beispielsweise mit Aufnahme des Studiums beginnen oder erst nach Abschluss der Promotion. Das akademische Alter ist dabei nicht zwingend mit dem chronologischen Alter identisch. Es ist durchaus möglich, dass zwei Wissenschaftler:innen das gleiche akademische Alter haben, aber im Abstand eines Jahrzehnts voneinander geboren wurden (Milojević, 2012).

Entfristete Stellen im deutschen Wissenschaftssystem sind rar. Durch die Regulierung bzw. Befristung von Arbeitsverträgen durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) besteht nicht nur eine große Konkurrenz unter den potenziellen Kandidat:innen. Auch das Zeitfenster zum Erhalt einer entfristete Stelle ist begrenzt. Daraus folgt, dass Wissenschaftler:innen dazu angehalten sind, bereits zu Beginn ihrer akademischen Laufbahn hoch produktiv zu sein (Jungbauer-Gans & Gross, 2013), um den für den akademischen Arbeitsmarkt notwendige wissenschaftliche Ressourcen zu akkumulieren (Laudel & Gläser, 2008; Auspurg et al., 2017). Sollten jedoch neben der individuellen Produktivität und der eigenen wissenschaftlichen Exzellenz weitere individuelle Faktoren – wie das Geschlecht, die soziale und ethnische Herkunft oder das Alter – bei der Entfristung eine Rolle spielen, kann dies nicht nur nachteilig für betreffende Personen sein, sondern auch für die Wissenschaft als Ganzes. Dies ist bspw. der Fall, wenn eine bestimmte soziale Gruppe (und damit auch deren Lebensrealitäten und Sichtweisen) unterrepräsentiert ist bzw. von der Möglichkeit langfristiger Karrieren in der Wissenschaft systematisch ausgeschlossen wird (Naegele & Ordemann, im Erscheinen). 

Vor diesem Hintergrund widmet sich das Forschungsvorhaben #IchBinHannelore der Bedeutung und dem Einfluss von „akademischem“ und „chronologischem“ Alter in wissenschaftlichen Karrieren. In einem ersten Schritt wurden im Rahmen von zwei Forschungspapieren (Ordemann & Naegele, 2024; Naegele & Ordemann, 2023) die Karrierewege von Wissenschaftler:innen, die bei ihrem Promotionsabschluss über vierzig Jahre alt waren, mit denen von jüngeren Promovierten verglichen. Es zeigte sich, dass ältere Promovierte schneller eine entfristete Stelle erreichen als ihre jüngeren Kolleg:innen, dies jedoch auf anderen Karrierewegen tun (z.B. eher als Professor:in an einer Hochschule für angewandte Wissenschaften als an einer Universität). Mit Blick auf mögliche Ungleichbehandlungen aufgrund des Alters ist daher eher auf eine positive Altersdiskriminierung im Wissenschaftssystem zu schließen, wenngleich dies nicht für alle Karriereoptionen in der Wissenschaft gleichermaßen gilt.

Eine aktuell laufenden qualitative Studie sollen jetzt in einem zweiten Schritt die Motive für den Start und den Verbleib in einer Wissenschaftskarriere von älteren Promovierten näher untersuchen. Im Fokus steht dabei die Frage, wie ältere Promovierte die eigenen Karrierebedingungen und -chancen im Wissenschaftssystem erlebt haben bzw. erleben. Mehr Informationen zur Studie und zur Möglichkeit an der Studienteilnahme finden Sie hier.


Literatur:

Auspurg, Kathrin, Hinz, Thomas & Schneck, Andreas (2017). Berufungsverfahren als Turniere: Berufungschancen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Zeitschrift für Soziologie 46 (4): 283–302. https://dx.doi.org/10.1515/zfsoz-2017-1016

Bahr, Amrei, Eichhorn, Kristin & Kubon, Sebastian (2022). #IchBinHanna - Prekäre Wissenschaft in Deutschland. Berlin: Suhrkamp.

Hüther, Otto & Krücken, Georg (2018). Higher Education in Germany—Recent Developments in an International Perspective, 223–255. Cham: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-319-61479-3

Jungbauer-Gans, Monika & Gross, Christiane (2013). Determinants of Success in Universtity Careers: Findings from the German Academic Labor Market: Erfolgsfaktoren in der Wissenschaft - Ergebnisse aus einer Habilitiertenbefragung an deutschen Universitäten. Zeitschrift für Soziologie 42 (1): 74–92. https://doi.org/10.1515/zfsoz-2013-0106

Lutter, Mark & Schröder, Martin (2014). Who becomes a tenured professor, and why? Panel Data Evidence from German Sociology, 1980–2013. Research Policy 45(5): 999–1013. https://doi.org/10.1016/j.respol.2016.01.019

Naegele, Laura. & Ordemann, Jessica (2023). Zu alt für die Wissenschaft? Wissenschaftliche Karrierewege von älteren Promovierten in die Entfristung. In: Villa Braslavsky, I.-P. (Hg.): Polarisierte Welten. Verhandlungen des 41. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bielefeld 2022.

Milojević, Staša (2012). How are academic age, productivity and collaboration related to citing behavior of researchers. Plos One 7(1): e49176. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0049176

Laudel, Grit & Gläser, Jochen (2008). From apprentice to colleague: The metamorphosis of Early Career Researchers. Higher Education 55(3): 387–406. https://doi.org/10.1007/s10734-007-9063-7

Ordemann, Jessica. & Naegele Laura (2024). Forty and over the academic hill? Biological and academic age and the race for tenure, Soziale Welt, Sonderheft 26. https://doi.org/10.5771/9783748925590-457